Freitag, 1. Januar 2021
Empfindlichkeit, Beleidigtsein und Rückzug – Wie es dazu kommt und wie man sie los wird
Empfindlichkeit, Beleidigtsein und Rückzug sind weder angeborene Veranlagung noch Zufall, sondern vielmehr entspringen sie als Gefühlslagen der grundsätzlichen Haltung des Menschen zum Leben und dem jeweils individuellen unbewussten Lebensstil. Diese unbewussten Überzeugungen lassen sich ändern, so dass die Empfindlichkeit als Ausdruck der Distanz zu den Mitmenschen durch eine immer mehr zunehmende Zusammenarbeit und durch ein Zugehörigkeitsgefühl abgelöst wird, durch Freude am Zusammensein.
Wir wollen alle gerne mit anderen gut auskommen, insbesondere mit Menschen, die uns nahestehen, sei es in der Partnerschaft oder bei den eigenen Kindern, in der sonstigen Familie, bei Freunden, im Verein oder im beruflichen Umfeld.
1. Beleidigtsein
Wir haben diesen grossen Wunsch, und doch merken sehr viele von uns, dass wir uns manchmal oder sogar oft abgelehnt, zurückgewiesen, falsch verstanden oder falsch und ungerecht behandelt fühlen – ja sogar missachtet. In solch einer Situation reagieren wir dann oft beleidigt, man kann auch sagen gekränkt, sind sogenannt enttäuscht von anderen, manche sagen „verletzt“.
Auch wenn wir es gerne anders hätten, sind wir „verstimmt“, sind „eingeschnappt“ oder „hässig“, „trotzig“, „nachtragend“, „grollen“, sind „griesgrämig“, „übelgelaunt“, „missmutig“. Wir bekommen etwas „in den falschen Hals“ oder „nehmen dem anderen etwas krumm“. Man kann hierfür viele verschiedene Begriffe aufzählen, weil wir alle unsere Begriffe dafür haben, jeder den, der ihn eher anspricht, so dass er sich hineinversetzen kann, worum es geht.
2. Empfindlichkeit
Man kann allgemein zu solchen Situationen sagen, dass man dabei empfindlich ist – oder sagen wir lieber überempfindlich. „Überempfindlich“ klingt für die meisten Ohren besser und wir können uns dann vorbehalten, empfindlich sein zu dürfen – auch wenn psychologisch gesehen empfindlich zu sein immer ein Ausdruck eines Gefühlsirrtums ist.
Überempfindlichkeit ist eine innere Not und ist psychologisch gut einfühlbar. Niemand sucht sich diese Affekte aus freien Stücken aus, sondern man fühlt sich diesem Drang nach Beleidigtsein und Grollen meist ausgeliefert.
Wir folgen dabei unbewussten Gefühlen und Überzeugungen, die wir heute zu verstehen suchen.
Wie immer sind wir selbst in unserem ganzen Fühlen, Denken und Handeln viel aktiver als wir es uns zugeben wollen. Wir reagieren nicht nur. Wir versuchen diese unangenehme Situation mit unseren eingefleischten – meist unangepassten – Mitteln zu bewältigen. Diese liegen uns aber sehr nahe und erscheinen uns als die einzig möglichen.
Wir suchen in dieser Situation oft irgendwelche Gründe für unsere eigenen irritierten Gefühlslagen. Wir unterstellen zum Beispiel, der andere sei sowieso taktlos oder sogar herzlos oder unsensibel, sei ungerecht, vielleicht eifersüchtig, jedenfalls kommunikationsunfähig. Oder wir bilden uns ein, es sei „mit dem anderen Geschlecht eben immer so schwierig“ oder wir glauben sogar, es hätte mit dem Sternzeichen des anderen zu tun. Es gibt ja immer noch Menschen, die glauben, dass es dem Geschlecht zugehörige Fähigkeiten gibt oder dass die Sterne im Moment der Geburt den menschlichen Charakter formen, was leider dazu führt, dass man das Gespräch nicht sucht, weil man meint, man müsse sich eben mit einem bestimmten Verhalten von sich oder anderen abfinden.
3. Rückzug
Wir begründen also mit diesen Unterstellungen unsere irritierten falschen Meinungen über die anderen Menschen. Wir ziehen uns innerlich vor dem anderen zurück, distanzieren uns. Damit sind wir beim Rückzug. Nur mit diesem Rückzug vor dem anderen, oft befreundeten oder gar geliebten Menschen ist es möglich, den anderen anzugreifen: Entweder nur in Gedanken oder ganz offen.
Der gefühlsmässige Vorbehalt dem anderen gegenüber kann wie eine scheinbar abgeklärte und ruhig vorgebrachte Kritik erscheinen oder kann sich sehr laut anhören oder gar schreiend daherkommen. Und manchmal sehr überzeugend klingen. Aber noch öfter ziehen wir uns nicht nur innerlich, sondern auch äusserlich sichtbar zurück, auch wenn wir meinen, das vertuschen zu können. Der andere merkt es auf jeden Fall. Mit dem scheinbar unauffälligen Rückzug können wir uns manchmal gefühlloser machen und uns dahingehend schützen, dass der befürchtete Abstand zum anderen nicht so weh tut. Manchmal ermöglicht uns dieser Rückzug sogar zu behaupten, es mache uns nichts aus, dass wir in Distanz zu anderen sind oder gar im Streit.
Der Rückzug kann also auch ein gekonnter, für einen selbst unauffälliger Rückzug sein. Aber viel öfter handelt es sich um einen vorwurfsvollen oder beleidigten Rückzug. Auffälliger ist meistens die heftige Kritik. Der beleidigte Rückzug, vor allem der innere und unauffällige ist schwerer zu fassen und viele bestreiten ihn sogar, wenn sie darauf hingewiesen werden, und er erscheint moralisch besser.
Da wir bei anderen und vor uns selbst gut dastehen wollen – zumindest solange wir einen gewissen Grad an Verbundenheit mit anderen empfinden können – suchen wir eine gute Begründung für unsere ablehnenden Gefühle beim anderen. Wir sind intelligente Wesen und suchen und finden eine Erklärung dafür, dass wir selbst so einsilbig oder schweigsam sind und warum man so distanziert oder ablehnend sein müsse.
4. Wie zeigt sich der Rückzug?
Ein Rückzug zeigt sich verschieden, ist aber für den anderen sehr deutlich: Man weicht dem Blick des anderen aus, geht ihm aus dem Weg, interessiert sich nicht, antwortet nur kurz oder antwortet nicht, geht auf Wünsche nicht ein, hält sich nicht an Verabredungen. Man lässt den anderen öfter „in der Luft hängen“, meint recht zu haben, sogar wenn der andere leidet und allein gelassen ist. – Und hofft später meistens, dass der andere das auch nicht mehr so genau weiss, was man ihm angetan hat oder es vergisst, weil man genau weiss, dass es nicht passend ist, dass wir uns innerlich oder auch äusserlich zurückziehen und den anderen auflaufen lassen.
Gerät man in solche Gefühlsaufwallungen, ahnt man aber vielleicht, dass das Schmollen und Zurückweichen dazu führt oder sogar dazu dienen soll, dem anderen Schuldgefühle zu machen oder ihn dazu zu bringen, sich so zu verhalten wie es einem richtig erscheint. Es kann sogar sein, dass man ahnt oder sogar merkt, dass sich ein anderer Mensch in derselben Situation nicht so betroffen fühlt. Und man schiebt diesen Gedanken aber schnell weg, um sich darauf einzustellen, seine abweisende Gefühlslage zu rechtfertigen.
Es fällt den meisten schwer, sich mit diesen Gefühlslagen zu befassen, weil es zu peinlich ist und sogar mit zu vielen Schuldgefühlen belastet und deshalb auch mit vielen Selbstrechtfertigungen eingehüllt wird.
Sogar wenn wir ahnen, dass wir uns daneben benehmen, sind wir so darin verwickelt, dass wir meinen, an unserem Gefühl festhalten zu müssen, um dem anderen oder sich selbst nicht sagen zu müssen, dass es sich einfach um ein verfehltes Gefühl gehandelt hat, das einen überfallen hat. Wir sind deshalb nachtragend, kramen vermeintliche Verletzungen aus vergangenen Zeiten wieder hervor, um zu beweisen, dass unsere zerstörerischen Gefühle doch passend sind. Wir können uns sogar innerlich innerhalb von Minuten oder manchmal Stunden in eine Gefühlssituation so lange hineinsteigern, bis es uns gelingt, alle Argumente und nicht passenden Erinnerungen und Wahrnehmungen gegen unsere Vorwürfe an den anderen nach und nach auszuschalten, bis wir sicher sind, dass der andere eindeutig gegen uns ist und wir nur beleidigt und betroffen sein können und mit einer freundlichen oder gar humorvollen Beziehungsaufnahme nichts ausrichten können.
Treffend zeigt sich diese Stimmung – und dass sie so vielen von uns wohlbekannt ist – daran, dass sie sogar auf Postkarten abdruckt ist, die man in Papeterien und Kiosken findet:
5. Affekte bei Empfindlichkeit, Beleidigtsein und Rückzug
Die Empfindlichkeit, das Beleidigtsein und der Rückzug beinhalten jedoch oft noch mehr Affekte, die hier im Weiteren zu schildern sind. Treffen wir auf den anderen, sind wir nicht nur beleidigt, was noch neutral klingen könnte, sondern im eigentlichen Sinn vorwurfsvoll in der ganzen Haltung. Der andere Mensch weiss oft nicht, wie ihm geschieht. Er hat in dieser affektgeladenen Stimmung keine Chance, wenn er uns nicht recht gibt mit unserer gefühlten Behauptung, der andere hätte sich falsch benommen. Denn wenn er sich unseren emotionalen oft unausgesprochenen und manchmal ausgesprochenen Vorwürfen nicht unterordnet, fühlen wir uns wieder bestätigt, dass der andere gegen uns ist.
Dieser emotionale Rückzug kann mit Ärger, Trauer, Verachtung und Wut gepaart sein, manchmal auch gegen sich selbst. Denn auch die Selbstanklage dient in gleicher Weise dazu, den Rückzug vor anderen antreten zu können.
In der ganzen Gefühlsnot und der vermeintlichen Selbstverteidigung kann es sogar sein, dass wir uns weigern zu sagen, was uns beschäftigt, auch wenn der andere es hören will. „Er soll es selbst herausfinden“, meinen wir, wenn wir uns lange genug in die Anklage hineingesteigert haben. Oder wir ahnen, dass der andere uns dann in Frage stellen könnte, wenn wir anfangen zu reden. Und was machen wir mit unseren angehäuften negativen Überzeugungen, wenn sie vielleicht gar nicht stimmen? Wir müssten dann zugeben, dass wir uns getäuscht haben und selbst ungerecht waren, und das scheint uns oft in solchen Situationen nicht möglich. Wir würden das Gesicht verlieren, meinen wir, wenn der andere uns den Vorgang anders schildert als wir ihn uns zurechtgebogen haben und müssten dann weitere Gründe für unsere ablehnenden Gefühle finden. Und das kann dann teilweise Stunden dauern. Nur weil wir nicht empfinden können oder nicht zugeben können, dass wir uns wirklich in schlechte Gefühle hineinverrannt haben. Man glaubt vielleicht, man würde dann schlecht dastehen.
6. Gegnerschaft zum anderen
Wir streiten darüber hinaus am liebsten ab, beleidigt zu sein, vor uns selbst und vor dem anderen. Wir wollen ja keine unpassenden Gefühle haben und haben meist eine so tolle Begründung dafür gefunden, dass wir uns nicht davon verabschieden wollen. Wir brauchen leider einen Ausweg, bei dem wir wenigstens teilweise recht behalten, weil wir nicht damit angefreundet sind, dass wir uns wirklich in eine Phantasiewelt hineinsteigern können, an der gar nichts stimmt. Und gar nicht daran denken, dass der andere froh ist, wenn man sich wieder versteht und viel milder ist als man denkt.
Leider reden wir auch im Nachhinein über diese negativen Gefühle wenig, weil sie so unpassend für das Leben sind und es uns zu wenig bewusst ist, was dabei vor sich gegangen ist.
Wir vergessen sogar solche Abläufe schnell oder reden uns ein, dass sie einen realen Grund hatten und der andere froh sein kann, dass wir das vergessen. Aber damit sind wir das nächste Mal mit der Empfindlichkeit wieder in der gleichen Situation und vertreiben die Freunde, die Kollegen, die Partnerin oder den Partner. Und bleiben innerlich alleine mit unseren Empfindlichkeiten und unserem Gefühl ständig ungerecht behandelt und nicht verstanden zu werden und den damit verbundenen negativen Gefühlen und der Not, nicht anders handeln zu können.
Wenn wir es uns genau überlegen, wissen wir eigentlich genau, was der Psychotherapeut Joseph Berke darlegt: dass Beleidigtsein im emotionalen und sozialen Bereich ein ernsthaftes Chaos anrichtet. Leider passiert das besonders häufig bei engen Freunden, in der Partnerschaft oder in der Familie. Oft zerbrechen daran sogar Partnerschaften und Freundschaften, die gut zusammenpassen würden, weil die Hintergründe davon nicht bewusst sind.
Wenn wir ehrlich sein könnten, könnten wir uns also folgendes vor Augen halten: Es handelt sich bei diesen Empfindlichkeiten offensichtlich um ein Gefühl der Gegnerschaft, sogar um eine Feindseligkeit gegenüber dem anderen, der einen vermeintlich ablehnt. Deshalb meinen wir, der andere müsste mit Zwang in eine Richtung gedrängt werden, die wir vorschreiben wollen. Nämlich in eine Richtung, so dass wir uns bestätigt fühlen in unseren unbewussten Wünschen.
Dieser Tatsache ins Auge zu sehen, ist sehr schwer. Es ist auch deshalb schwer, weil wir nicht gewohnt sind, unsere Gefühle wissenschaftlich zu untersuchen.
7. Ausweichmanöver, die die Untersuchung negativer Gefühle erschweren
Wenn wir solche Gefühlslagen wissenschaftlich neutral untersuchen möchten, sollten wir verschiedene Mechanismen kennen, die wir häufig zum „Schutz vor Untersuchung“ einsetzen und die wir direkt im Vorfeld ausschalten sollten, damit sie die Untersuchung nicht stören.
7.1. Besorgnis, schlecht dazustehen - Schuldgefühle
Ein solcher Schutzmechanismus ist die Besorgnis, schlecht dazustehen, und besonders Schuldgefühle; wir meinen, schlecht dazustehen, wenn so ungeschminkt ausgesprochen wird, wie wir uns manchmal unangemessen im Leben bewegen und sogar andere plagen. Dies kann zum Beispiel dazu führen, dass man nur dem Ziel folgt, nicht verurteilt zu werden, oder dass man sich Entlastung von anderen verspricht und sich in der Folge mit der eigenen Gefühlslage nicht wirklich befasst.
Wir können uns nur ausdauernd mit solchen Gefühlslagen beschäftigen, wenn wir wissen, dass alle diese Gefühlslagen eine Folge der Eindrücke in der Kindheit sind und der Mensch unbewusst einem Lebensstil folgt und dieser verstehbar ist. Wenn wir uns viel Wissen darüber aneignen, was zu solchen Gefühlen führt, dann werden wir dabei auch milder mit solchen unpassenden Gefühlslagen.
7.2. Schönreden
Da wir das nicht wissen, versuchen wir unsere Haltungen zu vertuschen oder schönzureden. Wir legen uns Verschiedenes zurecht, so dass wir unsere negativen Gefühle schützen und rechtfertigen können. Leider entziehen wir uns damit auch der Untersuchung und damit auch der Behandlung.
7.3. Rechtfertigungsversuch
Die meisten würden sagen, dass man ja wirklich von anderen Menschen abgelehnt werden kann und man deshalb berechtigt distanziert oder beleidigt sein kann oder sich zurückziehen muss. Das stimmt, das gibt es, dass auch andere Menschen ablehnende Gefühle haben. Aber es gibt keinen Grund, wegen einer Schwäche von anderen empfindlich zu sein und mit der ganzen Palette von Beleidigtsein und Rückzug zu reagieren und uns sogar damit zu befassen, was der andere alles falsch gemacht hat.
Wenn wir sicher wären, dass wir oft einer Empfindlichkeit unterworfen sind, dann könnten wir viele Situationen mit anderen schnell klären, und der andere Mensch, der von seinen unbewussten Gefühlen geplagt ist, würde sich meist freuen, wenn wir wieder nahe in Beziehung sind.
7.4. Appelle an sich selbst und andere richten, korrektes Verhalten zeigen
Aber auch wenn wir uns demgegenüber eingestehen, dass wir da ein Problem haben, könnten wir dennoch versucht sein, nach einem verkürzten Weg zu suchen. In der Tradition moralischer Erziehung versucht man dann diese Emotionen mit Appellen an sich selbst zu verhindern, indem man vordergründig das erwünschte Verhalten zu zeigen versucht.
Oder man weicht dem Problem aus, indem man die Appelle an andere richtet und sich nur noch auf deren richtiges Benehmen konzentriert.
Diese Vorgehensweisen stellen aber keine Lösung dar und führen höchstens dazu, dass wir diese Emotionen versteckter ausleben. Wenn wir sicher wären, dass wir dadurch Beziehungen stören und sogar zerstören, würden wir darauf verzichten. Aber wir sind oft nicht sicher und deshalb hören wir nicht damit auf, andere Menschen und sogar den Liebespartner zu plagen und uns selbst ins Abseits zu stellen. Die Frage ist, warum wir da nicht sicher sein können und wie wir verstehen können, warum wir und so viele Menschen in unserer Kultur gerade denjenigen so plagen, den wir eigentlich gerne haben oder sogar lieben.
8. Psychologische Herangehensweise
Warum also halten wir an solchen destruktiven Gefühlen fest und hören nicht damit auf? Wir versuchen nun, diese Gefühle von Empfindlichkeit, Beleidigtsein und Rückzug psychologisch zu erklären.
Dabei gehen wir folgendermassen vor:
- Wir betrachten diese Gefühlslagen als Symptome einer grundsätzlichen Haltung zum Leben. Wir sehen darin zuerst einmal ein im Gefühl verankertes Menschenbild, also wie der Betroffene zu anderen Menschen steht und welchen kommunikativen Wert diese Gefühlslagen haben.
- Wir untersuchen, welchen unbewussten Lebensstil ein Mensch in den ersten Lebensjahren entwickelt hat, der ihn so nervös und unruhig unter Menschen sein lässt
- Wir untersuchen, welche erzieherischen Einflüsse auf das Kind wirken, damit es zu einer solchen Haltung kommen kann
- Wir befassen uns danach damit, wie diese inneren Überzeugungen aufgrund unserer Analyse verändert werden können.
8.1. Haltung zum Leben und kommunikativer Wert
Wir betrachten diese Gefühlslagen nicht moralisch und verurteilen sie nicht, sondern sehen sie als eine unbewusste gefühlsmässige Meinung über den Menschen und die Welt. Ausserdem erkennen wir das meist unverstandene Ziel, das den jeweiligen Gefühlslagen in der Beziehung zum anderen Menschen zugrunde liegt, und deren Sinn. Dr. Jörg Merten vom Institut für Verhaltensforschung in Saarbrücken, sagt dazu, dass die Emotionen kommunikativen Wert haben: „Beim Beleidigtsein und beim Rückzug signalisieren wir dem andern, wie er sich verhalten soll. Diese Aussage gibt uns zu denken, glauben wir doch meistens, dass man seinen Gefühlen ausgeliefert sei.“ Die Gefühlslagen sind eben nicht etwas, was uns einfach überfällt, sondern sie erfüllen eine Funktion, die der jeweiligen grundsätzlichen Haltung zum Leben entspringt.
Wie wir aus den Beschreibungen gesehen haben, meint der empfindliche Mensch ständig, der andere sei gegen ihn. Er fühlt sich nicht wohl unter den Menschen, ist misstrauisch und kommt schnell auf die Idee, der andere hätte etwas gegen ihn. Er interpretiert schnell, dass der andere Mensch ihn zu wenig beachtet, ungerecht ist, anderes wichtiger findet.
8.1.1. Verzerrte Wahrnehmung
Die Wahrnehmung ist so verzerrt, dass man sogar positive Äusserungen negativ deutet. Damit verbunden ist, dass es der andere ist, der immer beweisen muss, dass er nicht gegen einen ist. Das bedeutet, dass man – meist ohne es zu merken – an den anderen unrealistisch hohe Erwartungen stellt: Der andere soll immer für einen so da sein, dass er einen im Gefühl immer richtig erfasst. Das muss scheitern.
8.1.2. Geringes Selbstwertgefühl
Das Selbstwertgefühl des empfindlichen Menschen speist sich hauptsächlich daraus, dass man mit Zwang vom anderen Zuwendung erreichen kann ohne selbst dazu etwas beitragen zu müssen.
Der eigentliche Ausweg für die Entwicklung des Selbstwertgefühls, eine Zusammenarbeit mit anderen, ist nicht vorgesehen, sich aufeinander abstimmen und sich gegenseitig immer besser verstehen, wird mit dem eigenen Vorurteil nicht möglich, dass der andere gegen einen ist. So entsteht kein echtes Selbstwertgefühl.
8.1.3. Forderungen an andere statt Zusammenarbeit
Der Empfindliche und Misstrauische kann wenig oder kein positives Gefühl dabei entwickeln, wenn man sich mit dem anderen zusammentut, dem anderen etwas zuliebe tut oder den anderen versteht oder sein Anliegen erfasst. Es liegt ihm fern.
Der empfindliche Mensch meint stattdessen in ganz unbewusster Art und Weise, an den anderen Forderungen stellen zu müssen, damit er sich selbst wohl, gerecht behandelt und sicher fühlen kann. Der misstrauische Mensch wird sein Misstrauen deshalb immer und immer wieder bestätigt sehen, weil keiner seine überhöhten Anforderungen erfüllen kann. Da diese Forderungen unendlich sind und mit Zuwendung nicht zu beruhigen, kann deshalb der Freund oder Partner in dem vergeblichen Versuch, mit dem anderen in Verbindung zu kommen, sich richtig erschöpfen.
8.1.4. Pessimismus
Man kann auch sagen, der empfindliche Mensch ist nicht mit dem Leben versöhnt und steht diesem nicht positiv gegenüber. Er ist pessimistisch. Er hat nicht erfahren, dass man die auftretenden – auch schwierigen – Aufgaben im Leben lösen kann und man daran selbst beteiligt ist. Er kann die Herausforderungen des Lebens nicht gut erleben, fühlt sich ständig gestresst.
8.1.5. Irritierte Lösung: Forderungen stellen
Da der empfindliche Mensch sich ständig mit Nebensächlichem befasst und nicht freudig zusammenarbeiten kann, erlebt er mehr, kommen mehr Gefühle in Gang, wenn er beleidigt ist und sich zurückzieht, weil er beim Bezwingen des anderen am ehesten damit rechnet, eine Wirkung haben zu können.
Zusammenarbeit und realistisches Bewältigen des Lebens erscheint deshalb anstrengend, erscheint uninteressant und verschafft keine Lust. Deshalb können die meisten Menschen eine Schwierigkeit überhaupt nicht erkennen und sie streben gar nicht an, zwischenmenschliche Abläufe zu klären. Und wenn sie überhaupt zu erkennen sind, wissen die meisten bis heute noch gar nicht, wie sie zu klären wären und dass man die Gelegenheiten dazu ergreifen kann.
8.1.6. Lebensfalle: Irrtum bei der Suche nach Bedeutung
Die mangelnde Verbundenheit mit dem anderen Menschen und deshalb auch die wenigen positiven Erlebnisse im Leben nagen weiter am Selbstwertgefühl. Der Ausweg erscheint immer mehr darin, jemanden zu finden, der einen immer versteht, einen nie enttäuscht. Das ist nicht erreichbar und man muss scheitern. Man nennt das eine Lebensfalle, wenn einem der Weg im Gefühl verbaut ist, selbst etwas bewirken zu können, indem man mit anderen zusammenarbeitet. Deshalb erwartet man vor allem Ablehnung und insgesamt wenig im Leben, meist verbunden mit Vorwürfen ans Leben. Man merkt, dass man keine Lösung finden kann, was sich in Unruhe und Nervosität zeigt und im weiteren auch in depressiven Gefühlen.
8.1.7. Lebensfragen werden nebensächlich
Das bedeutet auch, dass der empfindliche Mensch sich mit den eigentlichen Fragen des Lebens zu wenig oder gar nicht befassen kann. Das reale Leben zu bewältigen bedeuten ihm nichts. Er erlebt zu wenig dabei, wenn er mithilft, ein gutes Zusammenleben zu bewirken. Er ist zu sehr damit beschäftigt, darauf zu achten, ob er genug Zuwendung von anderen erhält. Er beteiligt sich nicht an der Lösung anstehender Fragen, weil er dabei zu wenig Freude und Genugtuung entwickeln kann. Als empfindlicher Mensch ist er zu ungeduldig, um einer Frage längere Zeit zu widmen. Er fühlt sich deshalb umso minderwertiger und nicht genug anerkannt. Er hat alles darauf angelegt, herauszufinden, was ihn einschränkt und belastet und wo er falsch behandelt wird oder behandelt worden ist.
8.1.8. Misstrauen als Gefühlsfalle
Da ein solcher Mensch aufgrund des Misstrauens so empfindlich ist, und sich schwach fühlt und zudem wegen seines Menschenbildes keinen Ausweg sieht, wie er das Leben und andere dazu bringen kann, sich mit ihm zu befassen, ist er unruhig und emotional aufgepeitscht. Er ist diesem Gefühl ausgeliefert, weil er nicht weiss, dass dieses Misstrauen im ganzen Gefühlsleben den realistischen Ausweg verunmöglicht, nämlich mit anderen zusammenzuarbeiten und Genugtuung dabei zu erleben, mit anderen anstehende Aufgaben anzupacken.
8.1.9. Kultureller Hintergrund
Wir entwickeln diese Gefühle nicht einfach so, sondern dies steht im Zusammenhang mit einer Kultur, in der das Misstrauen dem anderen Menschen gegenüber allgemein verbreitet ist. Darauf kann ich an dieser Stelle nicht genau eingehen, wir müssen aber wissen, dass die freudige Annäherung an den anderen Menschen in einer Kultur sich nur schwer entwickeln kann, in der generell sehr viele Menschen gestresst sind, wenn sie sich einander annähern. Das zeigt sich auch daran, wie häufig ein fröhliches Miteinander nur möglich wird, wenn man sich dabei mit Alkohol oder Drogen betäubt.
8.1.10. Psychologische Vorstellungen als Beschreibungen
Verschiedene psychologische Ansätze versuchen das mit verschiedenen Begriffen zu beschreiben.
In einer dieser Theorien sagt man zum Beispiel zu diesen psychologischen Phänomenen, dass manche Menschen eine geringe Frustrationstoleranz haben, ohne zu erklären, woher das kommen kann.
Nach einem anderen Ansatz, geht man davon aus, dass man emotional instabil sei. Es wird festgestellt, dass solche Menschen eine erhöhte Bereitschaft haben, mit negativen Affekten wie Verstimmung, Beleidigtsein oder Wut zu reagieren. So kann man Menschen kategorisieren, doch bietet sich keine Erklärung für diesen Zustand an.
Ein weiter Ansatz besagt, dass manche Menschen sich besonders leicht verwundet und verletzt fühlen, also eine erhöhte Vulnerabilität aufweisen und deshalb leichter eine psychische Störung entwickeln. Diese erhöhte Verletzlichkeit ist verbunden mit weniger Einfühlungsvermögen in andere, mangelnder Angst vor den Konsequenzen der eigenen Handlungen und der Tendenz, sich leicht zu ärgern und gelangweilt zu sein oder heftig und impulsiv zu reagieren.
Ein weiterer Ansatz für einige der beschriebenen Phänomene ist, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, dass der betreffende Mensch eine Aufmerksamkeitsstörung habe und hyperaktiv oder eben in sich gekehrt sei und seine Impulsivität nicht selbst regulieren könne.
Mangels Erklärung für diese Beschreibungen sind viele Forscher fälschlicherweise geneigt, ohne Beweise eine Erbanlage anzunehmen, die wirken soll.
Wenn wir die beschriebenen Zusammenhänge jedoch genau erfassen, müssen wir das Problem nicht mehr nur beschreiben, wie in vielen psychologischen Theorien, sondern können uns an die Erklärung machen, wie diese Gefühlswelt beim Menschen in den ersten Jahren entstehen kann.
8.2. Unbewusster Lebensstil
Wir untersuchen als zweites, welchen unbewussten Lebensstil, welche Lebensmelodie ein Mensch in den ersten Lebensjahren entwickelt hat, der ihn so nervös und unruhig unter Menschen sein lässt.
Die Empfindlichkeit und all ihre Auswirkungen aufs Leben sind in Wirklichkeit nicht einfach zufällig da und packen uns, sondern sie haben einen Zweck innerhalb der Haltung zum Leben. Um das auch hier wieder zu betonen: Diesen Zweck in seinem Lebensstil denkt sich der Mensch nicht einfach aus. Er ist Folge seiner Eindrücke in den ersten Lebensjahren und was er daraus unbewusst folgert.
Wir können beim Fühlen, Denken und Handeln immer auch danach fragen, welchem meist unbewussten Zweck es dient.
Der Zweck des Beleidigtseins und des Rückzugs ist unserer Analyse gemäss zum einen, die Aufmerksamkeit auf unglückliche Art zu erhalten, die man nicht erhält oder vermeintlich nicht erhält, auch weil einem direktere Möglichkeiten verbaut sind. Zum anderen soll sich der andere schuldig fühlen, damit er die vermeintliche Herabsetzung zurücknimmt oder sich für mangelnde Beachtung entschuldigt und sie wieder gutmacht.
Zusätzlich kann diese autoritäre Haltung, mit der ein Mensch sein Schwächegefühl zu überwinden versucht, so weit gehen, dass er dem anderen wehtun will, sogenannte Rache nehmen will, um ihn für sein scheinbares Fehlverhalten zu bestrafen.
Wenn es uns gelingt, uns diese inneren Vorgänge vor Augen zu halten, können wir die Empfindlichkeit gar nicht mehr rechtfertigen oder sie sogar mit dem Begriff der Hochsensibilität überhöhen.
Die Vernunft würde uns sagen, dass wir unsere nächsten Freunde oder den Partner nicht plagen. Doch wie gesagt, nutzen wir den Verstand dazu, unsere unbewussten Gefühlsreaktionen als unausweichlich und angemessen zu rechtfertigen. Und falls das nicht mehr möglich ist, versetzen wir uns unbewusst in eine Gefühlsaufwallung, die uns ermöglicht, nicht mehr konsistent zu denken.
Der empfindliche Mensch ist also eingeengt darauf, eine grössere Bedeutung anzustreben, ohne sich am realen Leben und dem konstruktiven Lösen von Schwierigkeiten zu beteiligen. Stattdessen konstruiert er für alle zusätzliche Schwierigkeiten im Leben. Aus seiner Gefühlsüberzeugung heraus, zu wenig Bedeutung zu haben, ist er ständig bestrebt, besser dazustehen oder sogar am besten dazustehen und kann unter Umständen Ängste aufbauen, nicht genügend Aufmerksamkeit zu bekommen.
Er versucht deshalb auf spezielle Art und mit weniger Aufwand von anderen Anerkennung zu erhalten, zum Beispiel dadurch, dass er versucht, sie sich zu erzwingen. Unglücklicherweise findet jemand, der leicht beleidigt ist, viele Menschen, die sich deshalb Gedanken machen oder sich emotional damit befassen. Oder sich sogar fragen, ob sie sich falsch verhalten haben. Viele ringen dann darum, den Beleidigten, den Vorwurfsvollen oder Zurückgezogenen wieder zu gewinnen, so dass dessen Zwang leider oft von Erfolg gekrönt ist.
Da der empfindliche Mensch aber ständig mit diesen maladaptiven Mitteln zu kurzfristigem Erfolg kommt, aber im Leben zu wenig beitragen kann, kann er nicht geduldig sein. Er ist nervös, wie Alfred Adler in seinem Buch „Der nervöse Charakter“ sehr eindrücklich darlegt. Der nervöse und empfindliche Mensch kann mit seiner mangelhaften Ausstattung, direkt zum Leben beizutragen, nur versuchen in besonderer Weise aufzufallen und ohne sich mit anderen zu verbinden.
Das gelingt vielleicht als Kind, weil die Erwachsenen dieses Streben milder beurteilen und mangels Aufklärung nicht erkennen. Je älter das Kind wird umso weniger Anerkennung bekommt der Mensch durch dieses Bestreben.
Wie alle Menschen behält der nervöse Mensch diese unbewusste Zielrichtung bei, auch wenn er real zu wenig Erfolg hat. Wir sind mit dieser Einschränkung im Gefühlshaushalt nicht so ausgestattet, mit Mut andere Wege einzuschlagen. So muss der empfindliche Mensch sein Lebensgefühl absichern, indem er sich von anderen zurückzieht, wenn sie auf ihn nicht eingehen.
Der Rückzug, der uns scheinbar überfällt, ist also nicht einfach nur eine einfache Enttäuschung über die anderen, sondern ein unbewusstes, aber gezieltes Mittel dazu, dass sich die eigene Zielrichtung, etwas Besonderes sein zu wollen und von anderen ohne eigenen Beitrag hervorgehoben zu werden, aufrechterhalten lässt.
Der Rückzug ist zudem eine Erleichterung im Gefühl, weil der Anspruch darauf nicht erfüllt wird, dass der andere mir mehr Bestätigung gibt. Der Rückzug erscheint also nur als ein zufälliges Geschehen, ist aber eine Sicherung dafür, dass man seinen Wunsch, besonders beachtet zu werden, nicht aufgeben muss. So kann es sein, dass dieser Wunsch in einer Partnerschaft, in der der Partner diesen Zug bei der Partnerwahl nicht erkennt, als ständiges Bestreben immer stärker wird, dass sich der Partner nach einem richtet. Mit dem Mittel der Empfindlichkeit, des Nicht-Verstanden-Werdens, des Entsetzens über die Uneinsichtigkeit des Partners, vielleicht verstärkt mit Weinen und Erschrecken und einsilbigem Rückzug soll der andere bezwungen werden, immer mehr und zum Teil unendlich aufmerksam zu sein.
Alfred Adler hat in diesem Sinn in seinem Buch „Der Sinn des Lebens“ zum nervösen Charakter geschrieben:
„Sein Lebensmotto: »Alles oder nichts«, meist wenig gemildert, die Überempfindlichkeit des stets von Niederlagen Bedrohten, seine Ungeduld, die Affektsteigerung des wie in Feindesland Lebenden, seine Gier, bringen häufiger und stärkere Konflikte hervor, als nötig wären, und machen ihm den durch seinen Lebensstil vorgeschriebenen Rückzug leichter.“
8.3. Welche erzieherischen Einflüsse wirken auf das Kind, dass es zu einer solchen Haltung kommen kann?
Wie schon mehrfach betont, ist ein solches Empfinden, Denken und Handeln und sind solche unbewussten Überzeugungen Ausdruck einer grossen Not. Jeder betroffene Mensch gerät durch die Eindrücke in den ersten Lebensjahren in solche Empfindlichkeiten hinein, die er unbewusst immer weiter ausbaut.
Wir betrachten also diese Gefühlslagen als gewordene oder erworbene Gefühlslagen, nicht als feste Charaktereigenschaften. Sie sind auch Symptome einer grundsätzlichen Haltung zum Leben. Der Mensch hat also den anderen Menschen in den ersten Jahren oft so kennengelernt, dass er misstrauisch geworden ist, dass er dem anderen unterstellt, dass er Böses vorhat.
Halten wir uns immer vor Augen: Wie wir als Menschen leben, wie wir das Leben erleben, wie wir denken, fühlen und handeln ist davon abhängig, wie sich uns das Leben in den ersten Lebensjahren vorgestellt hat und wie wir das zufällig interpretiert haben. Was uns antreibt, was wir den ganzen Tag hindurch wichtig finden, welchen Phantasien und Befürchtungen wir nachhängen, was uns wichtig erscheint zu tun, wo unser Herz schlägt, wo wir einhaken, was uns erfreut und wie wir die anderen Menschen beurteilen, ist eine Folge davon, welche Erziehungseindrücke wir erhalten haben und wie wir unbewusst versucht haben, diese zu bewältigen.
Wie eine solche Empfindlichkeit zustandekommt ist immer individuell, das kann ganz verschieden sein. Generell gilt jedoch, dass ein Kind erlebt hat, dass das Leben mit allen Anforderungen von den Eltern nicht oder zu wenig beglückend vermittelt worden ist. Das Leben erscheint zu schwierig und die Zusammenarbeit mit den Mitmenschen zu kompliziert. Die immer auftretenden Schwierigkeiten erscheinen dem Kind als Belastung und nicht als Herausforderung, bei der man viel Zufriedenheit und ein Miteinander erleben kann. Die Eltern waren zu wenig über die psychologischen Zusammenhänge aufgeklärt, um eine Entwicklung hin zur Empfindlichkeit verhindern zu können.
Machen wir die Entwicklung einer Empfindlichkeit an einem längeren Beispiel deutlich:
Valeria ist eine nette 25-jährige Frau, die bei sehr vielen beliebt ist und mehrere gute Freundinnen hat. Mit diesen trifft sie sich am liebsten jeweils nur zu zweit. In einer grösseren Gruppe fühlt sie sich meistens etwas unwohl, weiss aber nicht genau warum. Zu zweit ist sie meist fröhlich, ausgelassen, zugewandt und engagiert, in einer grösseren Gruppe jedoch rasch sehr zurückhaltend. Trotzdem geht sie jeweils mit, wenn ihre beste Freundin Lea sie zum Ausgehen mit deren Freunden einlädt, da sie doch gerne auch mit dabei sein möchte.
Es dauert jedoch meist nicht lange, dass sich Valeria in Leas Freundeskreis nicht zugehörig und willkommen fühlt, obwohl alle sie immer nett begrüssen. Während die anderen ganz munter ins Gespräch kommen, wird Valeria bald einsilbig und zurückhaltend, mischt sich nicht ins Geschehen ein, sondern es beschäftigen sie andere Dinge. Dieses Restaurant gefalle ihr gar nicht, sagt sie dann zum Beispiel zu Lea. Sie wird missmutig und unzufrieden. Während die anderen lachen, reden und ihr Essen geniessen, sieht man Valeria steif und unglücklich auf der einen Seite des Tisches sitzen. Auch auf mehrere freundliche Fragen und Einladungen der anderen Freunde geht sie kaum ein.
Nur auf ihre Freundin Lea, die gewöhnt ist, sich sehr um das Wohlergehen ihrer Freundin Valeria zu kümmern, ist sie ausgerichtet. Lea wird durch Valerias Rückzug und Schmollen nämlich unruhig und versucht sich ihr ganz zuzuwenden, weil es der offensichtlich nicht so gut geht. Meist verlaufen die Abende so, dass Lea sich dann hin- und hergerissen fühlt, sich einfach mit den anderen zu vergnügen oder aber sich Valeria zuzuwenden.
Was beschäftigt Valeria, dass sie die Gemeinschaft unter Freunden nicht geniessen und sich zugehörig fühlen kann, sondern stattdessen in eine missmutige Stimmung verfällt und sich zurückzieht? Warum passiert das hauptsächlich in Gruppen und nicht wenn sie zu zweit mit jemandem zusammen ist? Welcher Logik folgen ihre Gefühle?
Da wir wissen, dass Gefühlshaltungen aus den Erlebnissen in der Kindheit verstehbar sind, untersuchen wir also ihr Aufwachsen und die Eindrücke, die auf sie als Kind gewirkt haben und welche Schlüsse sie daraus für ihr Leben gezogen hat:
Valeria ist die jüngere von zwei Schwestern. Ihre 4 Jahre ältere Schwester konnte natürlich mit den Eltern viel mehr besprechen und unternehmen als sie. Als Valeria als 2- oder 3- jährige auch mitzuhalten versuchte, konnte ihre Schwester mit ihren guten Ideen und ihrer witzigen Art die Eltern schnell wieder für sich einnehmen. Valeria folgerte unbewusst und nach und nach daraus – in ihrer Familie als der ersten Gemeinschaft, die sie kennenlernte – nicht ganz dazuzugehören und hinter der Schwester zurückzubleiben. Sie entwickelte nicht den Mut, weiter zu probieren. Die Eltern interpretierten das immer ohnmächtigere Ringen der kleineren Schwester um das Mitmachen falsch. Sie waren nicht informiert darüber, wie wichtig es wäre, beiden Kindern beizubringen, wie man eine schöne Gemeinschaft bildet, in der alle zwei Kinder und beide Eltern miteinander in Verbindung sein könnten. Valerias Mutter reagierte emotional sehr stark und besorgt, wenn einer ihrer Töchtern etwas missfiel, wenn sie zeigten, dass es ihnen nicht gut ging und wollte ihnen sofort das Leben erleichtern. Somit hatte Valeria auf ihre Mutter eine grosse Wirkung, wenn sie am Tisch, wenn sie das Gefühl bekam, nicht gesehen zu werden, zu quengeln begann. Der Missmut und das Schmollen der kleinen Valeria bewirkten bei der Mutter, dass diese das Gespräch mit der Schwester unterbrach und sich der Kleinen ganz zuwendete. Dies war ein unglücklicher Erziehungsfehler, da sie ihrer Tochter damit einerseits bestätigte, dass ihr Unwohlsein berechtigt war, andererseits ihr einen falschen Ausweg aus diesem Unwohlsein bot, nämlich plötzliche ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie wusste nicht, wie sie stattdessen der Tochter im Gespräch einen Ausweg zeigen könnte.
Bei Valeria bildete sich eine unbewusste Überzeugung heraus, dass sie in einer Gruppe nicht mitmachen und damit dazugehören kann, dass sie dort mit ihrem konstruktiven Beitrag sehr willkommen ist. Ihr Gefühlsschwerpunkt im Zusammensein mit anderen richtete sich darauf, sich durch das Zeigen ihres Unwohlseins, d.h. durch Rückzug und Beleidigtsein, die ungeteilte Aufmerksamkeit von einer Person zu erhalten. Dies war eine unglückliche Entwicklung, da Valeria somit keine Chance hatte, ihr Schwächegefühl, nicht dazuzugehören, durch ihren Beitrag zu einer schönen Stimmung zu überwinden und zu lernen, wie sie aus eigener Initiative die Beziehung zu anderen aufnehmen und sich dazugesellen kann. Dazu hätten ihre Eltern sie anleiten, sie schon als kleines Kind zum Mitreden ermutigen sollen. So entfaltete sie immer mehr das für sie passende Gefühl, empfindlich zu sein zusammen mit der Überzeugung, sonst nicht gesehen zu werden. Sie entfaltete wenig Genugtuung im gemeinschaftlichen Mitwirken, sondern glaubt, nur durch Rückzug genug gesehen zu werden. Und man darf sich nicht täuschen lassen, dieselbe Unruhe, dasselbe Schwächegefühl spielt auch in diese Zweierbezieung hinein und macht es auch dort schwierig, sich in Ruhe zusammenzutun.
8.4. Wie können diese Gefühle und Überzeugungen also verändert werden?
Zusammenfassend können wir diese Gefühle und Überzeugungen verändern, wenn wir folgendermassen vorgehen:
- Es geht als erstes darum, dass wir diese Gefühle nicht ablehnen, sondern als gewordene wie alle anderen anschauen, dann können wir uns überhaupt damit befassen.
- Wir müssen uns mit dem Menschenbild und dem allgemeinen Hintergrund befassen, der in unserer Kultur dem Menschen gegenüber weitherum besteht. Die Zusammenarbeit ist nicht vorgesehen. Es erscheint uns nötig, andere dazu zwingen zu müssen, mit uns zusammenzusein.
- Es geht darum, die Gefühle als Folge der Eindrücke in der Kindheit zu verstehen. Zu erfassen, dass sie geworden sind und nicht einfach da sind und wie sie genau geworden sind, dass wir sicher werden, dass sie nicht mehr nötig sind um uns auf der Welt zurechtzufinden, ja dass sie sogar dem widersprechen.
- Diese Gefühle gilt es, als Schwächegefühle und als zielgerichtete – kommunikative – Versuche der Verbesserung der eigenen Lage verstehen zu lernen. Dies kann geschehen, indem man sich aus einer Notlage befreien möchte, indem man auf ungünstige Weise zu Genugtuung und Anerkennung kommen will oder zum Ausdruck bringen will, dass der andere sich mehr mit einem befassen soll. Oder es kann dadurch geschehen, dass man eine Niederlage vermeiden möchte, indem man durch eigenen Rückzug die befürchtete Ablehnung vorwegnimmt. Oder es kann geschehen, indem man vom eigenen Unvermögen ablenkt, indem man dem anderen Vorwürfe macht. Und all dies ohne zu merken und zu empfinden, dass man die jeweilige Verbesserung der Situation auch direkt erreichen kann.
- Weil diese Gefühle in den engen Beziehungen in den ersten Lebensjahren entstanden sind, braucht es auch mindestens eine Vertrauensperson, der man abnimmt, dass diese Gefühle nicht oder nicht mehr passen. Wir müssen es jemandem abnehmen können, dass die eigenen Gefühle überholt sind und dass wir dem Menschen näher treten können und dabei nichts Schlimmes passiert.
- Die Empfindlichkeit als Ausdruck der Distanz zu den Mitmenschen wird abgelöst durch eine zunehmende Zusammenarbeit, wachsende Zugehörigkeitsgefühle und Freude am Zusammensein. Dadurch wird die Sicherheit immer grösser, dass man sich direkt mit anderen zurechtfinden kann.
Nicht die Erlebnisse diktieren unsere Handlungsweisen, sondern die Schlussfolgerungen, die wir aus diesen Erlebnissen ziehen.