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Sonntag, 2. Juni 2024

«Frieda stört in der Schule, ist unkonzentriert und verweigert sich» – ein Beispiel

Burga Buddensiek

Frieda ist sieben Jahre alt und besucht eine erste Primarschulklasse. Sie hat eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder. Friedas Eltern arbeiten beide Teilzeit in guter Position und bemühen sich sehr um ihre Kinder. Demzufolge kann man Frieda als ein sehr gefördertes Kind bezeichnen. Da Frieda viele Interessen hat, sich sehr gut artikulieren kann, für ihr Alter viel weiss und zudem sehr kreativ ist, rechnet niemand damit, dass es Beschwerden von den Lehrerinnen in der Primarschule geben könnte. Und dennoch sieht sich die Mutter bald damit konfrontiert.

Frieda erfüllt ihre Wochenpläne nicht und muss häufig Aufgaben mit nach Hause nehmen, obwohl das nicht vorgesehen ist. Sie hält sich nicht an die Klassenregeln, ruft einfach hinein, wenn sie etwas sagen möchte, boykottiert die geforderten Aufgaben und beschäftigt sich mit anderen Dingen. Auch zuhause ist es mühsam, mit Frieda die Aufgaben nachzuarbeiten. Es braucht oft viele Ermahnungen und mehrmalige Aufforderungen, bevor sie bereit ist, zu beginnen. Die Eltern fragen sich: Was ist da los?

Wenn ein so aufgewecktes, interessiertes und von den Eltern gefördertes Kind wie Frieda Schwierigkeiten in der Schule hat, kommt schnell die Hypothese auf, das Kind sei sicher unterfordert und vermutlich «hochbegabt». Auch Friedas Eltern spielten mit diesem Gedanken. Sie wollten ihre Tochter jedoch nicht den verschiedenen Testverfahren und Begutachtungen aussetzen und suchten zunächst Rat bei der Individuellen Lernhilfe Dübendorf.

Eine Lernbegleiterin nahm sich des Mädchen an und baute gleichzeitig mit dem Lernen eine Beziehung zu ihr auf. In mehreren nebenbei geführten Gesprächen mit Frieda erfuhr sie nach und nach, was Frieda im Zusammenhang mit der Schule beschäftigte. Frieda war der Meinung, dass ihre Lehrerin sie nicht mochte. Sie fühlte sich von ihr abgelehnt und fand die Lehrerin streng. Über ihre Klassenkollegen konnte Frieda wenig sagen, außer über eine enge Freundin, die sie schon aus dem Chindsgi kannte. 

Beim Besuchstag in der Schule verschaffte sich die Lernbegleiterin einen Eindruck von der Lehrerin und der Stimmung in Friedas Klasse. Dabei beobachtete sie, dass die Lehrerin eine erfahrene Pädagogin ist und die Kinder sehr genau anleitet. Dabei ist sie freundlich und zugewandt und gar nicht «streng». Die Kinder hatten einen fröhlichen, zwanglosen Umgang mit ihr. Es stellte sich also die Frage: Was hatte Frieda erlebt und was hatte sie für Schlussfolgerungen daraus gezogen, dass sie nun in der Schule nicht mitmachen wollte?

Aus weiteren Gesprächen mit den Eltern ergab sich folgendes Bild: Als erstes Kind ist Frieda von Anfang an von ihren Eltern sehr gefördert worden. Die Eltern hatten viel Freude daran, sie vielfältig anzuregen und auf ihre Ideen einzugehen. Sie stellten ihr immer altersgerechte Bastel-und Werkmaterialien, Bücher und Malutensilien zur Verfügung und Frieda konnte immer allen ihren Interessen nachgehen. Das blieb auch so, als die kleineren Geschwister kamen. Wenn Frieda sich Bücher ansehen wollte oder malte, sorgte die Mutter immer dafür, dass sie
Ruhe dafür hatte und nicht von den Geschwistern gestört wurde. Auf diese Weise nahm Frieda eine Sonderrolle in der Familie ein und konnte sich mit den jüngeren Geschwistern nicht wirklich verbinden. Obwohl die nicht einmal zwei Jahre jüngere Freya sich sehr um die ältere Schwester bemühte, konnte zwischen den Schwestern keine innige Verbindung entstehen, weil sich die Mutter immer wieder der jüngeren als Spielgefährtin anbot, wenn die ältere ihren eigenen Ideen folgen wollte. So hat sich Freya schließlich dem fast drei Jahre jüngerem
Bruder intensiv zugewandt, weil zu ihm diese sogenannte «Rücksichtnahme» - also eigentlich von den Eltern errichtete Distanz-nicht bestand. Diese beiden Kinder haben heute eine sehr enge und liebevolle Beziehung zueinander, währen Frieda eher außen vor steht.

Frieda hat diese Erlebnisse für sich so interpretiert, dass die Welt in Ordnung ist, wenn sie ihren Interessen nachgehen und bestimmen kann, wann sie was macht. Wenn sie eine Idee hat, sorgen die Erwachsenen dafür, dass sie Material und Ruhe dafür hat, diese Idee umzusetzen.

In der Schule aber ist die Welt ganz anders. Hier sagt die Lehrerin, welche Aufgaben gemacht werden müssen, wann gerechnet und wann geschrieben oder gebastelt wird. Man kann nicht einfach sagen, was einem in den Kopf kommt sondern soll sich melden usw. Für Friedas Welt sind das viel zu viele Einschränkungen und wenn die Lehrerin auf der Einhaltung der Regeln besteht, erlebt Frieda sie als streng und fühlt sich abgelehnt. Mit diesem Gefühl wird Frieda nicht kooperieren.

Hinzu kommt, dass Frieda es gewohnt ist, eine hervorgehobene Position zu haben. Die Eltern wußten nicht, dass es von Bedeutung ist, Frieda mit den Geschwistern und mit ihnen als Eltern zu verbinden. So kann Frieda auch kein Zusammengehörigkeitsgefühl in der Schulklasse empfinden. Dass sie so wenig von ihren Klassenkollegen zu berichten weiss, ist ein Ausdruck davon. Frieda führt so ein recht einsames Leben.

Nachdem die Lernbegleiterin so ein Bild von Friedas Lebensstil gewonnen hat, nutzt sie ein weiteres Gespräch, um Frieda ihren Irrtum in ihrer Sicht auf das Leben zu erklären: «Weisst Du, Frieda, ich glaube ich habe jetzt verstanden, warum es Dir in der Schule nicht gut geht. Du hast mir ja erzählt, dass die Lehrerin so streng ist und Dich nicht mag. Ich kann mir jetzt ganz gut vorstellen, warum Du das so erlebst. Ich habe ja auch mit Deinen Eltern gesprochen. Und die haben mir erzählt, dass sie von Anfang an begeistert von Dir waren. Es hat
ihnen immer Freude gemacht, dass Du so viele tolle Ideen hattest und dass Du Dich für so viele Sachen interessiert hast. Da haben sie Dich gerne unterstützt. Sie haben Dir Material zum Basteln und Bücher besorgt und haben Dir geholfen, Deine Ideen umzusetzen. Sie haben auch manchmal Deine Geschwister von Dir ferngehalten, damit sie Dich nicht stören. Und so hast Du das Leben kennengelernt, als wäre es am schönsten, wenn Du immer machen kannst, was Dir einfällt und Du bestimmen kannst.

Aber jetzt kommt die Lehrerin und sagt Dir etwas ganz anderes. Jetzt sagt sie Dir, was Du noch nicht kannst und zeigt Dir, wie du am besten etwas Neues lernen kannst. Du merkst noch nicht, dass sie Dir damit weiterhilft. Da meinst Du vielleicht: Die ist aber streng und die mag mich sicher nicht! Sonst würde sie nicht so mit mir umgehen! Das kann ich gut verstehen. Ich glaube, mir würde es ganz genau so gehen, wenn ich das Leben so kennengelernt hätte wie Du.

Aber, ich muss Dir sagen, da bist Du im Irrtum. Die Lehrerin mag Dich sogar sehr gerne. Sie schaut nämlich, dass Du gut mitkommst in der Schule. Weißt Du, sie hat das studiert und weiß ganz genau, wie man am besten schreiben, lesen und rechnen lernt, damit man später gut weiterlernen kann. Wenn sie Dich nicht so gern hätte, könnte sie ja sagen: Och, die Frieda, die ist mir doch egal. Wenn sie nicht will, dann lernt sie eben nichts. Aber sie macht Dich immer wieder aufmerksam, wenn etwas noch nicht richtig bei Deinen Aufgaben ist. Das tut sie, weil
Du ihr wichtig bist. Und was Du, glaube ich, auch noch nicht bemerkt hast ist: Dass Du für Deine Schulkollegen auch ganz wichtig bist! Die schauen nämlich auf Dich: Wie macht das wohl die Frieda, die hat immer so tolle Gedanken. Ich glaube, die würden sich auch gerne öfter mit Dir zusammentun und etwas mit Dir machen. Achte mal darauf. Das gibt ein viel schöneres
Leben für Dich!»

Frieda hat sich die Rede der Lernberaterin sehr genau angehört. Wenige Wochen später berichte die Mutter, dass die Lehrerinnen ganz begeistert von Frieda gesprochen hätte. Sie würde viel mehr mitmachen und sich ganz konstruktiv in der Klasse einbringen. Es sei eine Freude, wie sie aufgeblüht sei.

Die Eltern von Frieda wurden parallel angeleitet, wie sie ihre Tochter unterstützen können, wenn sie wieder in alte Muster zurückfällt. Weil man nicht erwarten kann, dass ein Lebensstil, der sich bereits über sieben Jahre herausgebildet hat, durch ein Gespräch für alle Zeit geändert wird, geht es darum, Frieda liebevoll und geduldig aufmerksam zu machen, wann sie in frühere Muster hineingeraten ist und an das gemeinsam Erkannte zu erinnern.

Darüber hinaus wird mit den Eltern besprochen, wie es gelingen kann, Frieda mehr in die Familie zu integrieren und ihre «Sonderrolle» abzubauen, ohne sie in eine Abwehrhaltung zu bringen. Damit eröffnen sie für Frieda ein viel reichhaltigeres Leben.

Wir sollten lernen, mit den Augen des Kindes zu sehen, mit den Ohren des Kindes zu hören, mit dem Herzen des Kindes zu fühlen.
Alfred Adler

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